Von Tiedenhub und Strandschrott

Der Tidenhub: das ewige Kommen und Gehen der Depressionstiefs und des Antriebs. Mal ist Flut, dann läuft alles rund, dann bekomme ich Dinge gewuppt und der Laden läuft. Und dann ist wieder Ebbe: nichts geht mehr, kein Antrieb für irgendwas und alles ist irgendwie leer und egal. Im Gegensatz zum schön regelmäßigen und stetigen Hin und Her der Nordsee, ist beim mentalen Tidenhub allerdings selten etwas vorhersehbar, und Ebbe und Flut kommen, wie es ihnen selbst passt. Arschlochtiden. Und jedes Mal, wenn der Tidenhub im Gange ist, bringt er etwas mit: das Strandgut der Depression, das angespült wird und am Strand liegen bleibt. Was nicht mit der nächsten Flut wieder von selbst verschwindet, muss mühsam von Hand weggeräumt werden. Jeder, der sich mal mit der Verschmutzung der Meere befasst hat, weiß, wieviel Schrott neben den schönen Dingen wie Treibholz oder Muscheln so im Meer herumschwimmt. Und das bleibt dann alles bei Ebbe liegen, im mentalen Wattenmeer der Depression.

Letzte Woche hatte ich ein Tief. Eines, das so tief war, wie lange keins mehr. Mit Leere und Gleichgültigkeit, Antriebslosigkeit, bleierner Schwere, Traurigkeit, Erschöpfung, Tränen und Verzweiflung. Im Bett liegen, antriebslos wie ein gestrandeter Wal im Wattenmeer, jeder Schritt – jeder Gedanke an einen Schritt – wie das Steckenbleiben in der supschigen Treibsandschlotze des Sommerwatts. Nur ohne Wattwürmer zwischen den Zehen. Und dann kam, erst langsam und dann mit mehr Schmackes, die Flut zurück. Ich hatte Spaß im Büro, saß abends mit den Lieblingskolleginnen noch auf Bier und Pizza zusammen, und dann kam die Steuerrückzahlung mit euphorisierender, nahezu springflutartiger Wirkung. Ich habe mich gefreut und spontan beschlossen, endlich die seit längerem im Kopf hin- und hergewendeten Reisepläne Wirklichkeit werden zu lassen. Bereits am selben Abend war ein Plan geschmiedet und die erste Bahnkarte gebucht. Ich war froh, ich habe mich gefreut, und vielleicht war ich auch ein wenig glücklich. Heute setzte dann wieder die Ebbe ein. Keine furchtbare, keine ganz so lähmende, kein gestrandeter Wal, aber nichtsdestotrotz: Ebbe.
Dieses ständige Auf und Ab, diese Unberechenbarkeit, macht es anstrengend. Manchmal kann ich die guten Tage genießen, kann mich ganz in das Gefühl von Erleichterung und Unbeschwertheit fallenlassen, das kleine Glücksgefühl spüren und aufsaugen. Und dann kommt irgendwann die Vorsicht: Wenn es mir gut geht, kommt irgendwann immer der Knall. Wie lange wird es diesmal dauern? Wie lange werde ich Energie haben, bevor es wieder vorbei ist? Wie lange kann ich auf der Welle surfen, bevor ich wieder strande? Wenn sich dieses kleine Stimmchen meldet, ist das Genießen nicht mehr ganz so entspannt möglich. Dann kommt die Angst vor dem nächsten größeren Rückschlag. Manchmal kommt der aber auch ohne vorangegangene Vorsicht. Dann gibt es keine Phase der Vorsicht oder des Misstrauens, dann ist es einfach direkt wieder vorbei mit den guten Gefühlen und der Wal liegt im Watt, als hätte man das Wasser um ihn herum weggephotoshoppt. Die wirkliche Herausforderung an diesem unberechenbaren Tidenhub ist nicht nur, die Ebbe durchzustehen, sondern auch, sich nicht von ihr zermürben zu lassen. Nicht den Glauben daran zu verlieren, dass es eben wirklich „nur“ die Ebbe ist, die ganz sicher irgendwann wieder von der Flut abgelöst wird. Nicht die Hoffnung verlieren, dass die Abstände von der Flut bis zur nächsten Ebbe immer größer werden und die Ebbe selbst irgendwann kürzer werden wird. Das scheint mir momentan die Kür der Depression zu sein…

Der Tidenhub, das ständige Kommen und Gehen von Ebbe und Flut, bringt Zeug mit sich, das sich am Strand ansammelt. Manches davon kann man beseitigen, aber gewisser Schrott taucht immer wieder auf oder begleitet einen einfach gleich die ganze Zeit. Auch bei Flut gibt es Schrott, der nicht fortgetragen wird, sondern verharrt. Da wären beispielsweise die Nebenwirkungen der Mackendrops. So dankbar ich für dieses Zeug bin, und so wenig ich momentan wissen möchte, wie es mir ohne ginge, so sehr belasten mich in regelmäßigen Abständen seine Nebenwirkungen. Mit einer Unterbrechung von etwa einem halben Jahr, bin ich inzwischen seit 9 Jahren dabei. Und in diesen 9 Jahren habe ich zugenommen. Nicht nur zwei oder drei oder sieben Kilo, sondern zweistellig. Wenn ich mir Fotos von 2009 ansehe und dann in den Spiegel schaue, könnte ich heulen. Gertenschlank war ich noch nie, muss ich auch nicht sein, aber es gibt Tage, an denen die Gewichtszunahme nur schwer zu ertragen ist. Schuld ist zwar auch meine mangelnde Disziplin, aber leider liegt es in der Natur der Sache, dass die psychischen Probleme, die ich hatte und habe, wenig Kraft übrig lassen, um den Fressattacken zu begegnen. Anfangs dachte ich noch, die Hormone seien Schuld. Inzwischen weiß ich aber, dass es die Mackendrops sind. In dem halben Jahr, in dem ich sie nicht nahm, ging auch der Appetit zurück und ich nahm ab. Doch ohne die Antidepressiva geht es zur Zeit nicht, und an den meisten Tagen gilt: besser fett als tot.
Die andere Nebenwirkung ist die ständige Schwitzerei. Auch das kannte ich früher gar nicht, habe nicht einmal beim Sport arg geschwitzt. Jetzt brauche ich nur ein kleines bisschen zu warm angezogen sein, oder einfach nur vor mich hin sein, ohne groß etwas zu tun, und schon geht die Schwitzerei los. Im Winter sind die ständigen Wechsel zwischen kalt draußen und warm in der Tram oder in Geschäften Gift für mein inneres Kraftwerk, und wer schwitzt, friert auch irgendwann wieder. Oft laufe ich bei niedrigen Temperaturen mit offener Jacke herum, und dass ich häufig erkältet bin, wundert mich auch nicht mehr. Wenn ich geduscht habe, muss ich eigentlich erstmal eine ganze Weile abkühlen, bevor ich mich anziehe und das Haus verlasse. Während die Kollegen im Büro frieren, sitze ich da und heize vor mich hin.

Was sonst noch so an Strandschrott herumliegt, wenn gerade eine ausgeprägte Ebbe die Oberhand hat: Ich lebe neben dem Wäscheständer, auf dem die Wäsche so lange hängt, bis das nächste Mal gewaschen wird. Vorteil: was auf dem Ständer hängt, muss nicht erst in den Kleiderschrank. Besonders praktisch bei limitierter Kleiderschrankkapazität. Außerdem: ich esse ungesundes, aber schnell verfügbares Zeug, weil die Kraft zur Zubereitung anständiger Mahlzeiten fehlt. Im schlimmsten Fall heißt das: eine Tafel Schokolade essen, weil selbst das Stulleschmieren zu viel Aufwand ist. Wäsche wasche ich erst dann, wenn am nächsten Tag kein Schlüpper mehr da wäre. Weil das Hindernis, in den Keller zu gehen und zu hoffen, dass die eine (!) Gemeinschaftswaschmaschine frei ist, zu groß ist. Ebenso der Gang in den Waschsalon. Rechnungen bezahle ich ewig nicht, weil selbst ein paar Mausklicks zu viel Aufwand sind. Geburtstagsgeschenke reiche ich mit Monaten Verspätung nach, weil die Hürde, ein Geschenk zu finden, zu verpacken und zur Post zu bringen, zu hoch ist. Bücher höre ich mittendrin auf zu lesen, weil einfach keine Konzentration da ist. Lebensmittel lasse ich schlecht werden und muss sie wegschmeißen, weil keine Kraft da ist, sie zuzubereiten. Beim Einkaufen liebäugle ich mit den Blumen und kaufe sie doch nicht, weil irgendwie keine Entscheidung möglich ist. Und wenn ich während einer Ebbe doch etwas schaffe, erschöpft es mich so, dass ich den Rest des Tages nicht mehr viel anderes schaffe. An Ebbetagen sind die Menschen in der Tram zu viel, das Gerede, der Lärm, die Geräusche. An Ebbetagen nervt die Bohrmaschine der Nachbarn mehr als sonst, ja nervt selbst der eigentlich ganz euphorische, wenn auch schiefe, Morgengesang des Nachbarn, nerven Lachen, Weinen, Kreischen, Glucksen von kleinen Kindern.

Ich bewundere Menschen, die ein normales Pensum schaffen, und ich freue mich darauf, wenn ich das auch irgendwann wieder hinbekomme. Wenn ich nicht bangen muss, ob ich den gebuchten Urlaub wirklich antreten kann, und wenn der Haushalt einfach nur noch nervig ist, aber dabei nicht mehr die Zeit und Energie eines ganzen Tages kostet…

 

11 Gedanken zu “Von Tiedenhub und Strandschrott

  1. „Arschlochtiden“ – I love it! Und Du bist auch besonders liebenswert, liebes Julchen!!

  2. Danke für diesen wirklich tollen Text. In einigen Passagen habe ich mich sofort wiedererkannt und es tut gut zu wissen, dass ich nicht die Einzige bin, auch wenn ich das eigentlich schon lange weiß.

    1. Da nich für! Manchmal muss man Dinge, die man längst weiß, immer mal wieder schwarz auf weiß lesen ❤️

  3. Wau. Sie hat es wieder getan! Aus dem Handgelenk, treffend, pointiert. Grossartig. Danke Dir! Alles bekannt, alles durchlaufen, aber nie in der Lage es so wunderbar und fesselnd zu beschreiben!

  4. Liebe „Erna“,
    Du fasst in Worte, was ich selber erlebe, was ich selber ertragen muss, und was ich niemals so beschreiben könnte. Danke für deine Kraft, für deine Offenheit und deinen Mut dich mitzuteilen,
    Und für deinen Mut, trotzdem zu leben, einfach : Danke!

  5. Danke für deine Lebendigkeit und deinen Mut diese Art von Ebbe und Flut zu ertragen und deine Erfahrung teilen. Hab einen feinen Sonntag liebe Erna 🙏🎨🌚😊👣👣👣

    1. Danke Dir fürs kontinuierliche Lesen, lieber Torsten! Ob es Mut ist… ich weiß es nicht. Ich ertrage es eben. Auch Dir noch einen schönen Sonntag 😊

  6. Meine Schwester im Geiste.
    Ich habe mich hier wiedergefunden. So gut könnte ich meine Depression nie selbst formulieren, da mir immer mehr die Worte fehlen.
    Danke!

    1. Danke, liebe Marie. Ich kann es auch nicht immer. Aber wenn, dann versuche ich es. Ich schreibe zwar von mir, spreche aber hoffentlich auch für diejenigen, die es nicht können 😉 Wünsche Dir alles Gute – und dass die Worte zurückkehren!

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